Corona bedingt waren Archive und Bibliotheken geschlossen und bremsten meine übliche Beschäftigung mit Stadtgeschichte aus. Gleichzeitig kam das Thema Familie viel stärker in den persönlichen Fokus durch Ausgangsbeschränkungen und Kontaktbeschränkungen. So kam mir die Idee, mal einen Familienstammbaum zu basteln.
Stadtgeschichte wird viel persönlicher und noch sehr viel spannender, wenn man die eigene Familie erforscht. Dann werden Häuser und Läden/Fabriken zu Wohn- und Wirkungsstätten eigener Verwandter. Dann kommt man weg, die üblichen Berühmtheiten der Stadtgeschichte wieder und wieder durchzukauen und stellt fest, was die eigene Familie im Stadtgeschehen bewirkt und geleistet hat. Man taucht ein in die unerzählte Geschichte der Stadt, nämlich die eigene Familiengeschichte. Und es geht natürlich in ungeahnte Tiefen und ganz neue Erkenntnisse über die eigene Familie.
Daten zusammen tragen
Nichts war so ergiebig in diesen Tagen, wie das Wissen der noch lebenden Verwandten. Wer hatte welche Geschwister, wie hießen die Partner, wie viele Kinder gab es, wie sind die Anekdoten? Ganz nebenbei glühten so auf ungeahnte Weise die Telefone, die Tanten schrieben Listen der Verstorbenen und Fotokisten wurden verborgt. So viel kontaktloser Kontakt war regelrecht rekordverdächtig.
Eine zweite Quelle waren alte Dokumente. Allem voran die „Bücher der Familie“. Dazu Heiratsurkunden, Sterbeurkunden, Sterbeanzeigen, Scheidungsurteile, sonstige offizielle Papiere. Man glaubt gar nicht, wie kompliziert eine Scheidung um 1950 war. Es war also zeitgleich intensiver Geschichtsunterricht.
Von unschätzbaren Wert waren alte Fotos. Die vielen (bisher) Unbekannten darauf entpuppten sich plötzlich als Tanten, Onkels, Nichten, Neffen, Ur-Großeltern u.s.w.
Ein Stammbaum sollte dringend angefertigt werden, solange die „Alten“ noch leben und erzählen können. Nichts ist so kompliziert und leblos, als in Archiven rumzusteigen, um Geburtsdaten, Wohnorte, Geburtsnamen zu finden – und dabei niemals zu erfahren, wie die so waren, was die so machten, welche Liebschaften die hatten… Zahlen und Fakten sind letztlich fürchterlich trocken. Also nutzt die Lebenden als Quelle!
Mir brachte nur das: 107 Verwandte in 8 Generationen ans Tageslicht.
Fortfolgend sind Stadtarchive eine nächste Quelle, die ich bisher noch nicht ausprobieren konnte.
Genauso Online-Datenbanken. Davon habe ich www.familysearch.org ausprobiert, die große Datenbank der Mormonen, die weltweit führend sind in Sachen Ahnenforschung. Über 1 Milliarde Profile hat die Datenbank, nur meine Familie war noch nicht vermerkt. Deswegen bin ich dort wieder raus. Weitere Onlinedatenbanken probiere ich, sobald ich an Medien zu dem Thema rankomme (Stichwort: Geschlossene Bibliotheken).
Schönes Hobby für Sammler
In jeder Familie gibt es vermutlich diesen einen, der sich irgendwann diese Arbeit macht – zur Freude aller anderen. Ein bisschen war es wie Fußballsticker oder Autokarten sammeln. Irgendwann hat man alle aus der Kernfamilie zusammen. Hier und da gibt es mal eine ungeahnte Überraschung: Uneheliche Kinder, jung Verstorbene die alle schon vergessen hatten, zeitig im Krieg gebliebene und unter einer tiefen Wunde totgeschwiegen, der Seitensprung mit Nachkommenschaft wo der Name des Liebhabers fehlt. Aber im Grunde ist die Anzahl derer, die man zusammen bekommen muss, relativ klar. Insofern sieht man auch ein Ende bei diesem Hobby… zumindest vorübergehend.
Denn: Dieses „Spiel“ lässt sich nach belieben immer wieder aufgreifen und fortsetzen, dann nämlich, wenn man sich noch tiefer in die Vergangenheit gräbt und dann jeweils über Geschwister wieder Richtung Gegenwart forscht (also Familie im 4. + 5. Grad aufwärts).
Verwandtschaftsgrade
Was ist den eine Cousine 3. Grades? Wer ist eigentlich ein Schwippschwager? Und was ist das Kind des Großneffen letztlich zu mir? Es gab jede Menge Vokabeln zu lernen und sie richtig anzuwenden. Verwandtschaftsgrade sind also nicht nur in Bezug auf Erbschaften interessant, sondern auch, um über 6-8 Generationen durchzusehen. Im Alltagsgebrauch sind dann freilich einfach alles „Tanten und Onkels“, sowie „Cousinen und Cousins“.
Wikipedia hält da die wichtigsten Daten bereit.
Die Darstellung offline
Kein Stammbaum ist wie der andere. So lange die „Datensammlung“ nicht abgeschlossen ist, sollte man nicht mit der Darstellung beginnen, sondern lediglich erst einmal „hinlegen“: Fotos, Datenkärtchen (wenn man es offline macht).
Ich hab mich erst mit der klassischen Variante versucht: Großeltern oben, ich selber in der Mitte, unter mir die Nachkommen. Das war jedoch einfach nicht meine Form.
Dann hab ich es von links nach rechts versucht, so, wie wir auch lesen und schreiben. Großeltern also links und dann nach rechts die jüngeren Generationen. Davon bin ich aber wieder abgekommen.
Letztlich wurde es doch von unten nach oben und damit ein richtiger Stammbaum.
Bei Familysearch.org habe ich auch noch eine Tortendarstellung gesehen. Jedoch setzt man dabei sich selbst (oder die Großeltern) in die Mitte und schreibt dann in Ringen nach außen die Familienzweige. Das ergibt die Einschränkung, dass man nicht mehr tiefer in die Geschichte forschen und darstellen kann.
Kompliziert wird die Darstellung der Geschwister der Großeltern und deren Familiengründungen. Dann nämlich wird es 3D und geht in eine weitere Dimension. Bei einem Baum in der Natur kein Problem. Der ist ja nicht 2D. Auf dem Papier schon schwieriger, aber eine schöne Herausforderung.
Die Darstellung online
Natürlich kann man das alles auch online darstellen. Familysearch.org wäre so eine Möglichkeit gewesen. Eine andere Seite ist Geni.com, wo dann auch alle Familienmitglieder, die einen LogIn haben, zugreifen können. Es gibt viele weitere solche Datenbanken.
Warum trotzdem auf Papier?
Ich hab mich vorerst dagegen entschieden, eine Online-Datensammlung anzulegen aus mehreren Gründen:
📌 Die alten Tanten ü70 – ü90 haben kein Internet. So kann ich meinen Stammbaum zusammenklappen, hinfahren und mit ihnen darauf rumgucken.
📌 Irgendwas ausschneiden, aufkleben, einen Baum malen, Namensschildchen basteln, Fotos drucken, war extrem entspannend und hat mal ein paar andere motorische Fähigkeiten und Hirnareale beansprucht, wie immer nur tippen an Tastaturen. Pädagogisch wertvoll also.
📌 Sich eine Dattel zu machen, wie man all die Familienäste darstellt und 3D auf 2D baut, hat mein Hirn herrlich gefordert.
📌 Etwas, was auf Papier ist, ist tatsächlich in der Welt. Ein Objekt, was mit ein bisschen Geschick Generationen und Jahrhunderte überdauern kann. Das ist vielleicht so ein Vogel von Historikern, die mit Büchern, Bibliotheken und Archiven 1.000 Jahre lang sehr gute Erfahrungen gemacht haben. Von „Online“ kann das heute noch niemand sagen, was in 100 Jahren sein wird.
📌 An meinem Papierstammbaum kann genauso immer wieder angeklebt und fortgeschrieben werden, wie an einer Online-Datenbank.
Kosten
Ein Block A3 Papier: 0,69 Cent
Ein Tuschkasten und diverse Pinsel: 5,17 Euro
Fasermaler: 1 Euro
Ein Packen A4 Papier zum Namensschildchen und Fotos drucken: 2,99 Euro
Eine Druckerpatrone.
Und Zeit – davon gab es ja gerade reichlich.
Insgesamt also überschaubare Kosten.
Diverse persönliche Erkenntnisse
💡 Mehrere Läden in Görlitz Ende 18hundert gehörten Familienmitgliedern.
💡 Spannender noch war die Wirkungsweise der Ahnen im Ehrenamt der Stadt Görlitz.
💡 Überhaupt geh ich nun mit völlig anderen Augen durch die Stadt, denn überall wohnten und wohnen Familienmitglieder.
💡 Das alte Schlesien war Geburtsort vieler Vorfahren.
💡 Zeiten ändern sich: Von 7 Geschwister auf 1 Kind oder Kinderlos.
💡 Der Krieg hat blöde Lücken gerissen und Äste im Stammbaum absterben lassen.
💡 Ein bisher unbekannter Groß-Onkel wohnt doch tatsächlich in meiner Nachbarstraße.
💡 Stammbaum basteln bringt die Familie tagelang miteinander ins Gespräch.
💡 Durch die ganzen Heiraten und Kinderzeugungen, ist im Grunde die halbe Stadt verbunden miteinander – der überhaupt stärkste Frieden stiftende Aspekt der kleinen „Forschungsarbeit“. Wir sind eins! Im übertragenen Sinne alle Brüder und Schwestern.
💡 Mich (uns alle!) gäbe es gar nicht, wenn sich nicht Menschen seit Anbeginn der Zeit geliebt hätten und Nachkommen entstanden wären.
Forscht! Der Prozess ist wahnsinnig spannend. Es lohnt.
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