Seit Tagen begegnet mir immer wieder das Thema der vielen Selbstmorde in Görlitz zu DDR Zeiten. Görlitz soll in der Republik Platz zwei hinter Leipzig eingenommen haben. Ein Spitzenplatz, den man ungern einnimmt.
Googeln ist schwierig zu dem Thema. Schriftliche Quellen auf Papier weiß keiner der Befragten. Vielleicht kommen wir gemeinsam vorwärts, wenn wir zusammen tragen….
Zahlen? Schwierig!
Die Datenlage ist schwierig, denn die DDR versteckte das unangenehme Thema. Eine Soziologin soll laut Berliner Zeitung geforscht haben und fand die zwar notierten, aber nicht veröffentlichten Daten. „Demnach wurden zwischen 1952 und 1990 über 204.000 Suizide registriert (DDR-Weit!), das war europaweit Spitze.“ Eine Großstadt wie Rostock hatte sich also selber das Leben genommen.
(Die DDR hatte 1949 insgesamt 18.79 Mio Einwohner. 1989 noch 16.43 Mio Einwohner. (Quelle))
Görlitz – erste Betreuungsstelle für Suizidgefährdete in der DDR
Beim Weitersuchen finde ich zwar keine Zahl zu Görlitz, aber immerhin einen Eintrag im Ärzteblatt, dass der Psychologe Erwin F. Wiele Ende der 50er Jahre die erste Betreuungsstelle für Suizidgefährdete in der ganzen DDR in Görlitz einrichtete. Da hatte also einer auch ohne offizielle Datenlage das Problem erkannt.
Es heißt: Er „…veranlasste in Eigeninitiative eine Beratungs- und Betreuungsstelle zu schaffen. In Zusammenarbeit mit der chirurgischen Klinik und der Kriminalpolizei erfasste Wiele alle Patienten, die einen Suizidversuch unternommen hatten, und bestellte diese in größeren Abständen in seine Praxis beziehungsweise organisierte Besuche von Fürsorgerinnen. Wieles Suizidbetreuung existierte bis Mitte der 60er Jahre und wurde 20 Jahre später angesichts der mittlerweile noch gestiegenen Selbsttötungsziffern von Wolfgang Hasenfelder erneut etabliert.“
Dissertation: „Die Suizidproblematik in Görlitz“ von Hasenfelder
Es war ein Schüler von Dr. Wiele, Dr. Hasenfelder, der Zugang zu den Akten bekam und feststellte, dass sich von 1959 bis 1982 die Selbstmordrate mehr als verdoppelt hatte, nämlich auf das 7,5fache. (Siehe E-Book, Seite 232). Sein Ansinnen, eine Beratungsstelle zu errichten, wurde als „vertrauliche Dienstsache“ eingestuft und geheim gehalten. (Siehe E-Book, seite 186).
Ich finde abschließend keine genaue Zahl, aber die Bestätigung für die Gerüchte: Görlitz hatte ein nicht unwesentliches Suizidproblem. Aber warum?
Der Böhmische Wind und das Neißetal
Ein Hinweis kommt aus ungeahnter Richtung, nämlich aus dem Naturkundemuseum. Da soll in grauer Vorzeit jemand geforscht haben nach der Ursache, warum nun ausgerechnet Görlitz so ein Hotspot sei und ist beim Böhmischen Wind als Erklärungsmodell raus gekommen sein.
Weht der Wind über den Kamm des Zittauer Gebirge, dann tut er das tagelang und unerlässlich. Schon in Niesky, nur 20 km nördlich, ist davon nichts mehr zu spüren. In Görlitz jedoch wedelt es einem sprichwörtlich die „Ohren vom Stamm“.
Der Verstärker für den Böhmischen Wind sei das Neißetal! Dieses kanalisiert den Wind zusätzlich, presst ihn zusammen und beschleunigt ihn – nach Görlitz. Oberhalb des Neißetals sei es nicht so schlimm.
Hirschfelde und Hagenwerder
Zusätzlich sollen die Kraftwerke im Neißetal, nämlich in Hirschfelde und Hagenwerder, die Selbstmordproblematik in Görlitz zu DDR-Zeiten noch angefeuert haben. So kam mit dem Böhmischen Wind auch noch Dreck geflogen. Wir erinnern uns alle an die ewig schwarzen Fensterbretter…
Stört der Wind unsere Seelen?
An manchem windigen Tag ist man froh, wenn man die Haustür oder Autotür hinter sich zugeklappt hat und endlich „Ruhe“ ist. Wind zermürbt. Wind bringt Unruhe. Wind bedeutet Veränderung. Kann das etwas sein, was man auf Dauer schwer aushält? Muss man tatsächlich diesem Görlitz psychisch gewachsen sein?
Bau von Königshufen? Zu windig!
Schon im Nationalsozialismus soll es Überlegungen gegeben haben, wie man die Stadt erweitern könnte. Schon damals war man auf die acht Königshufen Land im Norden unserer Stadt gekommen – hatte es aber verworfen. Begründung: Zu windig für ein Wohngebiet!
Erst 1978 bis 1987 wurde dann doch gebaut und es entstanden ca. 6000 Plattenbauwohnungen im neuen Stadtteil Königshufen.
Stimmt es also, dass der Wind im Neißetal uns zermürbt?
Hilfe heute
Die Suizidbetreuung von Wiele und Hasenfelder gibt es nicht mehr. Aber eine große Psychosomatische Klinik im Klinikum. Siehe: http://www.psychosomatik-goerlitz.de/
Wer lieber Anonym bleiben will, kann sich an die Telefonseelsorge wenden unter 0800 1110111 und 0800 1110222 oder online unter www.telefonseelsorge.de.
Aktuell gibt es Bemühungen, die Teufelspaziersbrücke zu sichern, damit dort nicht jährlich jemand runter springt. Schwierig, denn sie gehört in das Eigentum der Deutschen Bahn. Wichtig dennoch, diesen Ort endlich sicher zu machen. Hier sind Stadträte und Verwaltung gefragt.
(Ein Beitrag vom 5.11.2021, 224 Likes, 9.579 erreichte Personen)
Eure wertschätzenden Kommentare
„Die Erklärung mit dem Wind ist schon recht interessant und es ist auch sicher was dran. Ich fühle mich auch etwas unwohl, wenn es tagelang sehr windig ist. Wenn dann jemand eh schon starke psychische Probleme hat, kann das sicher auch mal zu so einer Entscheidung führen. Allerdings denke ich nicht, daß eine Sicherung der Brücke wirklich was bringt. Wer das wirklich will, findet einen Weg. Man muß da bei den Menschen ansetzen, alles andere ist nur Symptommilderung.“
„Ganz spannend, dass Du das aufnimmst, liebe Insiderin. Das Windthema habe ich immer mal wieder vernommen.“
> „Es würde mich genauer interessieren. Falls es dir fundiert erneut begegnet, gib gern Bescheid. Sowas müsste dann eigentlich ebenfalls mit in Stadtplanung und Architektur einfließen: Windbrecher!“
„Traurig. Ich kannte auch 2 Leute die sich das Leben genommen haben. Noch zu DDR Zeiten. Das war so ungefähr 86/ 87. Sehr traurig“
„Hochinteressant zum Lesen….Ich habe ja schon gehört, dass diese Brücke in Görlitz „stark frequentiert“ war, aber dass es insgesamt so schlimm war???? Puh….“
„Als kleines Kind hatte immer Angst darüber zu laufen“
„Ich kenne auch eine Frau die es nach der Wende gemacht hat ,sogar mit ihren Hund .Sie hatte Krebs und wollte nicht mehr weiter leben .“
„Meine Heimat.
Ich kenne diese Geschichten vom Erzählen. Ich war damals noch recht klein u fand diese Vorstellung sehr schlimm. Heute arbeite ich unter anderem mit solchen kranken Menschen zusammen. Die zum Teil schon Suizidverusuche hinter sich haben. Ich bin einfach nur unglaublich Dankbar, daß ich Gesund bin.“
„Hochinteressant, ich bin zu dem Thema in den 70igern mit meinem Staatsbürgerkundelehrer aneinander geraten, die Diakonie in Görlitz hat sich mit dem Thema auch beschäftigt und mit Dr Hasenfelder zusammen gearbeitet. Das Buch über die Selbstmorde in der DDR hab ich mir schon besorgt („Unter Verschluss, eine Geschichte des Suizids in der ddr, Ellen von der Driest“), lese ich als nächstes – die Erklärung hier für Görlitz klingt spannend. Und der sprichwörtliche „Görlitzer Wind“ war in unserer Familie auch immer ein Thema, nach Görlitz „ nur mit Tuch für Hals und Kopf“ „
„Nicht umsonst heißt sie umgangssprachlich die „Teufelsbrücke“ .“
„Ich habe damals einen toten Mann unten liegen sehen. Habe es bis heute nicht vergessen können.“
„Trauriges aber auch interessantes Thema. Man müsste diesem Thema mehr Beachtung schenken.“
„Leider heilt die Zeit keine Wunden „
Die Teekellergeschichte, Teil 1, Teil 2, Teil 3, Teil 4.
„Ich hatte als Kind immer Angst vor der Teufelsbrücke, weil es hieß, dass da viele sterben. Und wenn man zum Pionierpark wollte, ich habe die schneckenrutsche geliebt, musste man drüber. Die Liebe zur Schneckenrutsche war dann doch größer als die Angst vor dem Tod. Und so ist es im wahren Leben auch. Meist braucht es nur ein empatisches Gegenüber. Ich überlege nur, ob die Sache mit dem Wind wissenschaftlich belegbar ist. Könnte eine Ursache sein, neben den vielen anderen Ursachen, wie u.a. Einengung (politisch, gesellschaftlich, kulturell, finanziell, gesundheitlich) wie es Ringel in seinem präsuizidalen Syndrom zusammengefasst hat. Dennoch eine interessante These.“
„Oh ja,der böhmsche Wind ist glaub ich allen Görlitzern ein Begriff. Rauschwalde hat ja seinen Namen auch nicht von ungefähr. Der Wind allain kann natürlich nicht die Ursache für all die vielen Selbstmorde sein,da spielt vieles andere eine noch weit stärkere Rolle. Wer den Sozialismus in GR miterlebt hat weiß was gemeint ist – das sprichwörtliche Abgehängt sein am äußersten Rand der Republik,das berüchtigte „Tal der Ahnungslosen“,der ewige Dreck aus Hirschfelde und Hagenwerder,der unfassbare Ver- und Zerfall der Altstadt usw….das brauchte schon starke Nerven um damit klar zu kommen. Görlitz hatte nicht zufällig eine der höchsten Raten an Ausreisewilligen,ich selbst habe der Stadt 1986 den Rücken gekehrt. Schlimme Zeiten waren das und leider wird da vieles auch verklärt heutzutage aber in der Regel von Menschen die diese Zeit nicht bewusst erlebt haben. Gerade bezüglich der unfassbaren Umweltverschmutzung wurde die Region nur noch vom berüchtigten Chemiedreieck um Leipzig und Bitterfeld übertroffen,von daher wundert es einen nicht dass diese Region der traurige Spitzenreiter in der Todesstatistik war. Gottseidank sind diese Zeiten vorbei, heute kämpft man in sauberer Umwelt gegen ganz andere Widrigkeiten aber das ist völlig anderes Thema.“
„Ein sensibles ,schwieriges Thema,ich glaube ,da spielen mehrere Faktoren eine Rolle, zB.Einsamkeit ,Verzweiflung, Liebeskummer und und Gründe ohne Ende ….Danke für die Info.“
„Sehr interessant“
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