Der Friedhof von Wiese / Ves

Der Friedhof von Wiese Ves CZ
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Es gibt im nördlichen Zipfel von Tschechien, der ins Schlesische reicht, einen Ort namens Ves = Wiese. Und der hat etwas geschafft, was man auf allen polnischen Friedhöfen im Umland vergeblich sucht: Die Achtung der Totenruhe der deutschen Einwohner bis 1945 und die Bewahrung der Ortsgeschichte. Ein solches Kleinod an friedlichem Nacheinander durch die Stürme der Geschichte ist mir noch nie zuvor in solcher Vollständigkeit begegnet. 15 km Luftlinie von Görlitz entfernt. Aber schaut selbst!

Anfahrt

Wir nehmen das Auto und fahren über Weinhübel nach Hagenwerder, wechseln die Flussseite der Neiße nach Radmeritz. Dann weiter entlang des Witka-Stausees nach Spytkow/Wanscha. Und von dort nach Ves/Wiese. Das sind ganze 20 km und 27 Minuten Fahrzeit. Theoretsich ist das auch mit Fahrrad möglich. Dann aber mit eBike, denn die 7 Hügel um Wolfsberg haben es in sich…

Es geht auch über die Stadtbrücke, durch Zgorzelec, in den Süden nach Moys und dort über Seidenberg/Zawidów, mit Schlenker über Tschernhausen/Černousy nach Ves/Wiese. Dann sind es größere Straßen und 24 km bei 33 Minuten Fahrzeit.

Rum wie numm ist es kaum weiter, wie bis Ostritz. Und tatsächlich sieht man von Ves/Wiese aus die Landeskrone – hier im Hintergrund zu sehen.

Der malerische Bergfriedhof

Der Friedhof ist am höchsten Punkt des Ortes gelegen. Davor – und bereits das ist sehr selten in Polen – ein intaktes Mahnmal für die gefallenen Deutschen Bewohner des ersten Weltkrieges. Ein offenbar tschechisches Mahnmal, wie die Zweisprachigkeit und der Rechtschreibfehler verrät. Es macht es um so wertvoller. (Im Hintergrund nochmal die Landeskrone).

Würde ich nochmals einen Miniaturfriedhof bauen, dann sähe er vermutlich genauso aus, wie der in Ves/Wiese: Mit kleinem Kirchlein, umrahmt von einer intakten Friedhofsmauer, in direkter Nachbarschaft zum Pfarrhaus.

Die erste urkundliche Erwähnung von Ves/Wiese war im Jahre 1306. Die Kirche Hl Laurentius wird erstmals 1346 erwähnt, ist aber vermutlich älter. Das Pfarrhaus erscheint mir Barock, eine Jahreszahl weiß ich nicht.

Deutsche und Tschechen nebeneinander

Und dann eröffnet sich das Unglaubliche: Deutsche Gräber ab 1830 und tschechische Gräber der Neuzeit stehen einfach nebeneinander. Es rührt so tief. Es ist so friedlich.
Ich nehme Euch mit eine Runde im Uhrzeigersinn um das Kirchlein.

Sogar Epitaphien aus dem 15 oder 16. Jhd sind unzerstört an der Kirchenwand, auch wenn viele bereits fehlen sollen. (Epitaphien: Dabei handelt es sich um besonders prunkvolle „Andenken“ an besonders wichtige Persönlichkeiten der Region).

Die tiefe Wunde, die auf polnischen Friedhöfen oft geschlagen wurde, gibt es nicht. Hier gab es keine Polonisierung (= Staatliche Anordnung zur flächendeckenden Vernichtung aller deutscher Spuren.) Nichts ist zerschlagen, nichts ist rausgemeißelt. Einzig der Zahn der Zeit knabbert am Gesamtensemble. Und noch viel wichtiger: Vieles scheint schon einmal restauriert. Sei es mit Klebstoff wieder zusammengekittet, mit Stift die Inschrift nachgezogen, mit Fugenmittel die Ränder verschmiert. Jemand hat den Versuch gestartet, es zu erhalten.

Die deutsch-tschechische Geschichte von Ves/Wiese

Vielleicht konnte diese Zeitkapsel der Dorfgeschichte überleben, weil Ves/Wiese mal deutsch, mal tschechisch war und schon immer im Grenzgebiet der beiden Länder lag.
„1921 lebten in Wiese 276 Personen, darunter 250 Deutsche und 17 Tschechen.
Im Jahre 1939 lebten in der Gemeinde 240 Personen.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam Ves zur Tschechoslowakei.
1945 lebten in Ves 120 Deutsche und 43 Tschechen.
Im Jahre 1946 hatte Ves 91 tschechische und 71 deutsche Einwohner.
1947 lebten in dem Dorf 139 Tschechen und 5 Deutsche“ – weiß Wikipedia.
Heute wohnen im Ort 81 Menschen.

Und so gibt es auf dem Friedhof auch Gräber von deutsch-tschechischen Paaren. Hier die Thieles – Thielova und Keller – Kellerova.

Einige Deutsche blieben. Sie wurden da behalten, weil sie die Industrieanlagen bedienen konnten. Andere sprachen tschechisch. waren vermutlich Kinder aus deutsch-tschechischen Verbindungen oder waren bereits mit Tschechen verheiratet. Freilich ist dies die Ausnahme, aber es hat eben stattgefunden.

Friedhof – aufgeklappte Geschichtsbücher

Da dieser Friedhof nicht zerstört wurde, sondern bis heute einfach weiter genutzt wird, wie er eben 1945 war, breiten sich vor dem Besucher die Dorfgeschichte und Familiengeschichten aus. Einige Grabsteine haben sogar Fotos – und ab jetzt wird es richtig spannend!

So findet man Anna Geißler, die 1927 mit 17 Jahren starb.

Oder Maria Peuker, die 1921 mit 64 Jahren starb.

Die Idee: Den Grabsteinen Gesichter geben

Ich weiß nicht, ob es diese Fotos auf alten Grabsteinen waren. Vielleicht auch die Familiengeschichten, die man aus mehreren Grabsteinen herauslesen kann. Vielleicht war es auch der Schmiedemeister mit seinen 208 vermerkten Kilos. Oder war es schlicht der viele Alkohol beim Karneval? Plötzlich jedenfalls war die Idee da, man müsste den Grabsteinen Gesichter mit KI basteln, weil viele Zusatzinformationen vermerkt sind. Das geht doch heutzutage alles. Und so entsteht hier und heute also der erste Insider unter zuhilfenahme von Chat.GPT.

KI generierte Einwohner von Ves/Wiese und Umland

Wir fütterten die KI zuerst mit Josef Förster, dem Schmiedemeister, der 1937 im Alter von 72 Jahren und mit 208 Kilos starb. War das eine späte Rache seiner Sargträger, das Gewicht auf dem Grabstein zu vermerken? Die Phantasie rennt doch bei solchen Infos sofort los. Und die KI gab uns ein erstes Bild:

Den nächsten Versuch starteten wir mit Karl Jüthner, dem Revierjäger, der 1911 mit 74 starb. Gefolgt von seiner lieben Gattin und „guten Mutter“, Adelheit Jüthner, die noch 19 Jahre als Witwe lebte und schließlich hoch betagt mit 88 verstarb.

Nach diesen zwei Versuchen war klar, ich muss nochmal zum Friedhof Ves/Wiese und einfach alle Grabsteine fotografieren, die Geschichten erzählen… Hier sind sie also, die Einwohner von Wiese, Tschernhausen, Ostrichen, ….

Der Landwirt Josef Hofmann, der mit 60 Jahren starb und dem seine Liebsten so rührende Worte mitgaben: „Ein liebes teures Vaterherz schläft hier in diesem Grabe. Wir fühlen es mit tiefen Schmerz, was wir verloren haben.“

Auch der Bäckermeister Anton Neisser liegt in Wiese begraben. Er lebte von 1875 – 1934 und wurde 59 Jahre. Es heißt, er war ein guter Vater.

Leid und Kummer auch um kleine Kinder, gehörten ebenfalls dazu. So ein Beipiel ist der Grabstein von Mariechen Neisser, vielleicht dem Töchterchen von Anton? Sie lebte von 1921 – 1924 und wurde nur drei Jahre alt.

Auch Paare findet man immer wieder. Wie den Werksmeister Stefan Feller mit seiner Gattin Klara Feller. Er wurde 62 Jahre, (1861 – 1923), sie 58 Jahre (1861 – 1919). Beide haben wunderschöne Grabsteine.

Genau wie heute, wurde in Familiengräber bestattet. Hier sind Mutter Anna Guttscher, die mit 30 Jahren starb. Ihr folgte 17 Jahre später die Tochter Alwine mit 20 Jahren. Das Kind hatte im Alter von 3 Jahren die Mutter bereits verloren. Im Grabe waren sie wieder vereint.

Der letzte in dieser Reihe, die einen Versuch unternimmt, Geschichte völlig anders zu begreifen, ist Anton Wöhl, der Mühlenbesitzer. Er lebte von 1821 – 1883 und wurde 62 Jahre alt.

Ich danke herzlich Jacqui für die Verwandlung der Grabstein-Inschriften in KI Bilder.

Rührende Inschriften, sogar auf tschechisch

Gerade Anton Wöhls Grabstein hat eine ganz rührende Inschrift:
„Aus der Gattin Arme fort und dem Kreis der Kinder, riss des Todes strenges Wort unseres Glückes Gründer. Ach wir sind es uns bewusst, nichts ersetzt uns den Verlust.“

Davon gibt es viele. Ich kann gar nicht alle zeigen. Vielleicht nur diese kleine Auswahl:
Julian Schulz: „Hier ruht in Frieden der früherer Kretschambesitzer in Ostrichen. Droben droben werd ich wohnen. Meine Lieben gute Nacht! Alle Treu wird Gott belohnen, die ihr habt an mir vollbracht.“

Kajetan Mieth: „Hier ruhen die irdischen Überreste des Herren entschlafnen Wirtschafts Direktor in Tschernhausen. Ruhe und Frieden seiner Asche.“

Das Pärchen Wenzel Horn und Auguste Horn: „Hier ruhet in Frieden mein innigstgeliebter Gatte, Fabrikdirektor der Firma Franz LIebig in Bunzendorf. Er verschied im 54. Lebensjahre. Wer im Gedächtnis seiner Lieben lebt, der ist nicht todt, der ist nur fern.“ Und Sie: „Hier ruhet in Frieden unsere gute Schwester und Tante, Fabriksdirektors-Witwe. Sie verschied im 75. Lebensjahre. Ruhe und Frieden ihrer Asche.“

Und dann war noch etwas Schönes zu entdecken. Ein tschechischer Grabstein, der es aufgreift, wie all die Grabsteine aus dem 19. Jhd um ihn herum gestaltet wurden und der eine so intensiv schöne Inschrift hat, dass ich sie Euch nicht vorenthalten will:

„Der letzte Ton der Geige verklingt plötzlich, Dein Herz, Vater, hat aufgehört zu schlagen, wir allein sind übrig und wir werden den Weg fortsetzen, den du gegangen bist und gehen wolltest.“

Was wäre gewesen, wenn die alten deutschen Friedhöfe nicht der Polonisierung bzw Zerstörung zum Opfer gefallen wären? Hätten sich vielleicht drei weitere Generationen sehr wohl vertragen können im kühlen Grabe nebeneinander und vielleicht sogar ein wenig die Bestattungskultur der Altvorderen übernommen? Der Friedhof in Ves/Wiese stellt diese Frage – 15 km Luftlinie von Görlitz…

… Und er sieht mich bestimmt wieder, dieser wundervolle Ort.

Unsere lieben Toten

Jemand hat sich bereits die Mühe gemacht, alle Grabsteine zu fotografieren und online zu katalogisieren, hier. Es sind 214 Grabsteine gelistet, falls jemand aus der Ferne gucken will oder Romane schreiben bzw Drehbücher.
Meine Begleitung sagte noch: „Überlege mal, und da steht auch 80 Jahre nach dem Krieg ein Friedhofslichtel auf so einem deutschen Babygrab…“
Ja, dieser Friedhof und seine lieben Toten sind nicht vergessen.


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