Heute war ich biografisch reisen. Das heißt, einen Ort meiner Kindheit besuchen. Görlitz hatte die vier Bekleidungswerke mit ca. 1.200 Beschäftigten, zuvor nannten sie sich „Volltuch“. Und diese Werke hatten in Ullersdorf (heute zu Jänkendorf gehörig) ein Ferienlager, dass in den DDR Sommerferien vier Durchgänge a 14 Tage durchführte. Ich war eines von ca. 50 Volltuchkindern pro Durchgang in den Jahren 1986 bis 1989. Heute war ich auf Spurensuche vor Ort…
Die Bekleidungswerke in Görlitz
Die alten Hasen gibt es ja noch. (Herta B aus der Liste der 100 Jährigen von Görlitz ist zum Bsp eine.) Und diese alten Hasen haben nochmal die grauen Zellen für mich zusammen genommen und gesagt:
Werk 1 war Salomon Straße.
Werk 2 war Demi, wo heute der Kostümfundus vom Theater drin ist.
Werk 3 auf der Biesnitzer.
Werk 4 war am Brautwiesentunnel.
Dann gab es noch ein Lager auf der Jakobstraße.
Und wir waren die Kinder der Mitarbeiter. Für diese Kinder, für unserer Lagerleiter und für die Ullersdorfer ist dieser Text.
Das Gebäude in Ullersdorf
Ich bin erstmal dran vorbei gefahren, denn es hat sich doch ganz schön gewandelt. Die Fassade ist neu. Aufs Dach sind Solarzellen geschnallt. Der Anbau rechts ist weggerissen. Ich würde sagen, es gab auch einen Anbau hinten dran, der ebenfalls fehlt.
Im Hof fehlen fast alle Schuppen, in denen die Tischtennisplatte stand und die Fahrräder hingen. Auch die zwei Klos an der Seite sind weg sowie die Waschräume.
Im Garten fehlen das Klettergerüst und die Schaukel.
Die Wiese, auf der wir Sketche aufgeführt haben, zum Fahnenappell antreten mussten oder uns sammeln beim nächtlichen Feueralarm ist heute Parkplatz und mit Büschen bepflanzt.
Als ich ankam, stand eine heutige Anwohnerin vor der Tür und wir kamen ins Gespräch. Sie ließ mich in den „Hausflur“, in dem alte Postkarten von früher hängen. Die lange Treppe nach oben gibt es noch! Die Tür davor, in der die Lagerleiter waren, auch. Gerade aus waren die Küchenfrauen und dort gab es den süßen Pfefferminztee. Die Tür gleich links führte zum Speisesaal. Oben wohnte eine alte Frau und es gab einen kleinen Schlafsaal. Unten gab es weitere zwei Schlafsäle.
Und das ist wohl der Effekt von biografisch reisen: Vor Ort fällt einem plötzlich so viel wieder ein, an was man 3(!) Jahrzehnte nicht mehr gedacht hat.
Postkarten von ganz früher
Die liebe Anwohnerin hat die Postkarten im Hausflur für uns alle fotografiert und so können sie in diesen Beitrag eingefügt werden. Wir Kinder waren natürlich vor allem auf dem Gelände und haben eventuell gar nicht so die Erinnerung an die Fassade der alten Bäckerei und Konditorei. Wiederrum haben die Dorfbewohner fast hauptsächlich Erinnerungen an die Fassade.
(Die Bäckerei rechts neben dem Hauptgebäude wurde inzwischen abgerissen.)
Vielleicht helfen die Postkarten 30 Jahre später Eure grauen Zellen nochmal auf Trapp zu bekommen 🙂
Der Ullersdorfer Konsum
Der war vom Ferienlager aus gleich gerade aus. Erst heute hab ich gesehen, dass dort auch eine Kirche steht. Die hat sich damals offenbar weggeguckt. Im Konsum gab es Bonbons, bei denen man das Papier mitessen konnte. Die waren der Hit. Ich hatte 10 Mark Taschengeld mit für die 14 Tage. Einen Teil gab ich für diese magischen Papier-zum-Mitessen-Bonbons aus. Der Konsum wurde in ein Wohnaus umgebaut erzählte mir die Anwohnerin.
Die Gärtnerei
Das andere Geld schafften wir in eine Gärtnerei an der Bundesstraße. Ich hab meiner Mutti einen Kaktus mitgebracht für 1,25 Mark. Den hat sie ungefähr 20 Jahre lang gehegt. Mit ca. 7 Mark kam ich zurück nach 14 Tagen. Andere mussten per Brief Geld nachgeschickt bekommen.
Die Gärtnerei gibt es nicht mehr.
Die tägliche Post
Mittags wurden Briefe und Karten der Eltern verteilt. Ein Höhepunkt des Tages, wenn man Post bekam. Und dann waren alle über die Mittagsruhe mit Karten schreiben beschäftigt: „Liebe Mutti, mir geht es gut. Das Wetter ist schön. Heute gehen wir baden. Viele Grüße“
Der Fuchsberg
Ich bin heute zu Fuß los zum Fuchsberg. Die kleinen Beinchen mit 7 – 10 mussten das schließlich früher auch alles laufen. Heute hab ich gestaunt, wie unendlich weit das war. Ich vermute aber, wir haben uns die Zeit verquatscht und verspielt. Ich weiß, dass ich in den Sommern im Ferienlager verstand, was eine „Schnitzeljagd“ ist und wie man Geräusche macht, wie eine Eule oder eine Taube. Das waren unsere Spiele auf dem Weg zum Fuchsberg. Und singen. Ganz viel singen!
Der Weg führt vorbei an den Ullersdorfer Teichen.
Ich weiß noch, dass wir nachts Rambazamba im Zimmer gemacht haben und deswegen zum Nachtsport mussten. Das ging diese Wege entlang. Erstaunlich, dass nie jemand ins Wasser gefallen ist. Auch die Nachtwanderungen gingen hier lang, bei denen die Dorfjugend Gespenst spielte und uns erschreckte bzw gleich in Wald zerrte.
An die Millionen Mücken kann ich mich auch noch erinnern. Jeden Morgen zählten wir die neuen Stiche. Ich hatte 82 und das war nicht Zimmerrekord. 🙂
Im Wald um den Fuchsberg mussten wir auch Blaubeeren sammeln. Das war das Mittagessen mit Buchteln. Nur das wir alle mit blauen Schnuten aus dem Wald kamen und im Grunde satt waren 🙂
Über all diese Gedanken bin ich zum Fuchsberg gelangt.
Der stand früher frei. Die Bäumchen waren kleiner, als wir. Nun stehen da 30 Jahre alte Bäume und der Felsen ist fast nicht mehr zu sehen.
Der Held war man, wenn man ganz schnell dort rauf klettern konnte. In Held oder Heldin wurde damals noch nicht unterschieden. Alle durften Held sein. Ich hatte heute meine liebe Mühe, wo die Felsen doch inzwischen viel kleiner erscheinen, also noch 1986 – 1989.
Tja, und das war tatsächlich die Tagesbeschäftigung: Zum Fuchsberg gehen, dort rumklettern und zurück. Ich kann mich an keine Unfälle erinnern. Und heute steht dort ein Wald drum rum. *verrückt.
Heut geht dort der Radweg von Thiemendorf nach Jänkendorf lang.
Sportfeste und Goldene Eins
Als ich mit der Anwohnerin des alten Ferienlagers „Frohe Zukunft“ plauderte, kam ihr Enkel und zeigte der Oma seine Medaillen. Und just fiel mir wieder ein, dass wir doch jedes Jahr Sportfest hatten und ich jedes Jahr mit einer Urkunde in Weitsprung, Ballwurf und Laufen heim kam. Wahlweise auch Minigolf. Und die „Goldene Eins“ in Verkehrserziehung legte ich dort auch ab. Es war in einem Park…
Ich hab jedoch nichts mehr gefunden, was mich an meine „Sternstunden“ des Sports erinnerte. Vielleicht war es der alte Sportplatz? Vielleicht auch wo anders? Wenn Kinder von A nach B laufen, sind sie offenbar mit sich und den anderen beschäftigt und trotten einfach gedankenlos der Herde hinterher.
Geblieben sind die Urkunden…
Geblieben ist auch ein Trauschein! Das war eine blöde Idee der Lagerleiter. Wir „MUSSTEN“ heiraten. Mein Vorschlag, ich mach Trauzeuge, galt leider nicht. Pädagogisch unklug.
Disko
Besser waren die Diskos, die die Dorfjugend für uns veranstaltete. Und so hörten wir dann auch die richtig gute Musik, die es offiziell gar nicht gab. Und mit den hübschen Dorfjungs tanzen war eine echte Besonderheit für die großen Mädels.
Baden fahren
Und auch das gehörte zu unseren Sommerbeschäftigungen: Wir radelten auf Klapprädern nach Quitzdorf, ins Waldbad Niesky und an einen kleinen von Wiese umgebenen Badesee – bei den Tonschächten Niesky oder doch in Wiesa?
Geschichten, Bilder, Erinnerungen
Ich hab die Telefonnummer mit der Anwohnerin der „Frohen Zukunft“ getauscht und da sie sich sehr über Fotos und Geschichten freut, darf gern in der Erinnerungskiste gekramt werden. Ich würde es weiterleiten… für den Hausflur mit alten Fotos und das Dorfgedächtnis von Ullersdorf.
Erste schöne Bilder
Norbert hat sich gemeldet mit Fotos von 2001 und 2009. Er sagt dazu: „In dem großen Raum hinten was früher Schlafsaal war, haben größere Feiern statt gefunden. Hinten, wo Duschen und Fahrradschuppen war, viel dann mit der Zeit so einiges ein und wurde dann im Laufe des Umbaus abgetragen. Oben lebte noch eine ältere Frau, die lebenslanges Wohnrecht hatte und schon vor der Wende dort gelebt hat!“
Eure schönen Kommentare
„ich war dort auch im Ferienlager“
„Wie geil ist das denn, da war ich so oft und hab so viel erlebt „
„Da war ich 3 mal“
„Wie toll da war ich jedes Jahr im Ferienlager war immer super„
„Glaube mich zu erinnern das oben in der Wohnung Fr Scholze wohnte die die Lagerleiterin war .Erinnert sich da noch jemand daran ?“
„Ich war dort viele Jahre in den Sommerferien, war immer lustig“
> „ich auch„
„Ich war auch im Ferienlager aber 60 Jahre kann mich an das Sportabzeichen erinnern und wenn wir spät Abends nochmal Hunger hatten gab es Fettstullen. Schöne Erinnerungen in Ihren Beitrag vielen Dank“
„wir mussten“ (Anmerkung: Ich denk, es bezieht sich auf dieses heiraten)
„Die Erinnerung wird gerade lebendig „
„Vielleicht war es der Lederteich oder in Wiesa? Sportplatz gab es noch einen kleinen direkt bei der damaligen Schule- jetzt Kinderschloss.“
> „Ja, war eine tolle Zeit. Ein paar auf den Bildern erkenne ich. Die Lagerleiterin Frau Bittner ( oder Büttner?) ist auch auf einem der Bilder zu sehen. Und an dich, Görlitz Insider, erinnere ich mich auch Früher bin ich öfters mit dem Rad da raus gefahren, inzwischen komme ich auf Grund der Entfernung nur noch sehr selten dort hin. Letztes Jahr war ich mit meinem Mann da.“
> „Hallo M., deine Mutti hieß noch nicht zufällig Evi mit Vornamen ? Wenn ja dann kennen wir uns persönlich gut .“
„Der Beitrag ist der Hammer.Es wird soviel lebendig. Ich war i Schlafsaal rechts und einmal oben. Wir saßen links an der grossen Tafel. Täglich gab es Post und es kamen immer viele Briefe. Die Nachtwanderungen und das schwimmen im See . Irre,danke für den Beitrag.“
„Das Werk 2 war auf der Biesnitzer Straße und hat Jeanshosen genäht für das nichtsozialistische Ausland . Am Demianiplatz war unsere Lehrwerkstatt. Ich selbst habe auf der Lutherstrasse gearbeitet , Werk 4 . Ich durfte auch als Gruppenleiterin arbeiten und die Lagerleiterin war Frau Brückner . Es war eine schöne Zeit und wir sind mit Fahrrädern zum Baden gefahren . „
„Vielen lieben Dank für diesen tollen Beitrag! Ich war dort zur selben Zeit im Ferienlager. Vielleicht haben wir uns damals sogar kennengelernt. Auf jeden Fall waren die vielen Informationen und Fotos sehr aufschlussreich und erhellend.“
> „ich würde sagen, ja. Große Mädchengruppe, Schlafsaal oben, 1989. „
> „durchaus möglich. Ich war damals 12 Jahre alt. Kannst Du Dich etwa an mich erinnern?“
> ja „
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