Auf Spurensuche in Nieda am Witkastausee

Reste-Nieda-Kirche-mit-Witka-Stausee
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Schon lange hatte ich mal den Witka Stausee auf dem Programm. Immerhin: Spätestens seit 2010 ist Görlitz schicksalhaft mit dem Stausee verbunden, als damals die Staumauer brach und sich 4.807.000 m³ Wasser Richtung Hagenwerder und Görlitz ergossen. Außerdem sagen alle meine Bücher sowie historische Fotos und Postkarten, das wäre ein prima Freizeitgebiet. Nicht zuletzt sollen derzeit Radwege unter dem Namen Witka – Smeda um den See gebaut werden. Das klingt doch alles so, als müsste man das mal gesehen haben. Und so sind wir heute zu zweit mal gucken gefahren. Ziel: Neue Staumauer gucken und Nieda (Niedow) ergründen.

Die Anfahrt

Wir fuhren von Görlitz nach Hagenwerder und dort über den Grenzübergang nach Radmeritz. Im CRT holten wir uns eine Karte vom Witkastausee und hofften auf gute Radwege.
An der Mühle in Radmeritz von 1459 war leider zu. Aber wir sahen schon mal die Witka (deutsch: Wittig, tschechisch Smeda), wie sie unweit der Neiße die Mühle speist.
Dann nahmen wir – aus Unkenntnis – die Hauptstraße bis zum Kreisverkehr, bogen rechts nach Bogatynia und radelten die Schnellstraße bis zum Abzweig Witka. Auf dem Rückweg stellten wir fest, dass man die Straße an der Kirche in Radmeritz nur gerade weiter müsste, um genau an der Kreuzung zur Witka rauszukommen. *tipp

Kirche Radmeritz

Die neue Staumauer

Wir haben vielleicht alle noch die Fernsehbilder im Kopf, wie der Staudamm der Witka am 10. August 2010 gegen 18 Uhr brach. Der MDR hat das in einer Reportage:

Für 14 Millionen Euro wurde bis 2018 eine neue Staumauer errichtet, die dem aktuellen Stand der Ingenieurskunst entspricht. Seit Juni 2020 sind Spaziergänge auf der neuen 263 Meter langen Staumauer möglich.

Der Damm
Die Staudammkante. Durch diese Darmzottenform fließt das Wasser über eine viel breitere Fläche ab.
So ne Staudamm-Zotte frontal.
Vorn käme es breit über den Überlauf. Dahinter eine Fischtreppe. Am Turm ist der reguläre Auslauf der Witka.
Nochmal von oben: Der Überlauf. Hinten wächst Meterhoch das Gras. Da kam also lange nichts mehr.
Von oben die Fischtreppe.
Von oben der Auslauf. Der macht ganz schön Krach.

Nur so zwischendrin: Theoretisch müsste man von Jauernick-Buchbach aus die Staumauer sehen können. Andersrum jedenfalls klappts. 🙂

Die Wittig (Witka) ist vor der Staumauer auf 210 Meter NN.
Die Neiße fließt in Görlitz auf 175 Meter NN.
Idyllisch

Die Kirchturmspitze da hinten ist in Nieda (Niedow), da wollen wir heut hin.

Das historische Nieda

Mein Buch „Jenseits der Neiße“ von Hans Schulz erzählt, das Nieda schon 1346 in einem Verzeichnis des Bistums Meißen als Nedaw erwähnt wurde, 1460 dann schon als Nieda. Nieda hätte ein wunderschönes Gotteshaus, welches schon 1346 erstmals erwähnt wird und somit zu den ältesten der Oberlausitz zählt. Zum Kirchenspiel gehörten einst 7 Gemeinden. Der Ort wurde zu einem Wallfahrtsort bis in die Mitte des 20. Jahrhundert.
Nieda war eine Ortschaft zwischen 7 Hügeln. Einer war der Klapperberg (Klapacz, 245 m). Ein weiterer der Wolfsberg (Slowianskie Wzgorze, 220 m). Dort schlug man aus Ermangelung von Kirchenglocken Eisenstäbe zusammen und „klapperte“ so die Wallfahrer zum Gottesdienst.
Die Ortschaft selber erstreckte sich zu beiden Seiten der Witka. Der Ort hatte bis 1942 eine Zentralschule, die auch Kinder der Nachbarorte Bohra (Wilka-Bory) und Wilke (Wilka) aus dem Landkreis Lauban besuchten.
Das klingt doch alles so, als müsste man da mal hin. Hier historische Fotos.

Die jüngere Geschichte

1937 gab es eine Umbenennung in Wolfsberg, so, wie auch Leschwitz zu Weinhübel wurde und Nickrisch zu Hagenwerder. 1941 hatte Wolfsberg noch 84 Einwohner und war schon immer der Winzling im alten Landkreis Görlitz. Dann 1945 die Grenzziehung. Nieda wird Niedow.

Touristeninfos am Wegesrand

In den Jahren 1958–1962 braucht der wachsende Tagebau Turow in Bogatynia Kühlwasser und staut sich die Witka an. Nieda (Niedow) wird zum untergegangenen Dorf. Es verbleiben die Kirche, das Pfarrhaus, die Schule. Der Ort hat 2015 noch 13 Einwohner. Dafür bis 2010 ganze 130 Übernachtungsplätze für Gäste, denn das Ufer mausert sich zu einem Wassererholungsgebiet mit Segelbooten, Tretbooten, Surfschule, Bühne direkt auf dem Wasser, Spielplatz, Restaurant. Das klingt doch rosig. Alte Postkarten und Videos zeugen davon. Und jetzt noch ein ausgebautes Radwegenetz dazu? Bei dieser Beschreibung ist uns völlig unklar, wieso so viele polnische Badegäste den Berzdorfer See bevölkern. Klingt doch fantastisch, was der Witka Stausee zu bieten hat.

Wir lernen im Laufe des Tages, wie sehr man sich trotz alter Bücher, alter Postkarten, Touri-Schildern am Wegesrand und Internetinformationen täuschen kann über den aktuellen Zustand….

Kirche und Friedhof

Die Kirche scheint in ungutem Zustand. Fenster stehen offen, der Putz bröckelt. Dabei trägt sie den schönen Namen: „Kirche von Unsere Liebe Frau der Engel“. 1517 – 1521 bekam sie ihr heutiges Aussehen. 500 Jahre alt also.

Meistens klappts, dass auf alten Friedhöfen deutsche Gräber die Polonisierung überstanden haben. Wir gehen auf Entdeckungstour und müssen gar nicht lange suchen:

Hier ruht in Gott unsere geliebte Gattin und Mutter. Frau Anna Dienel, geb Altmann. * 23. Jan. 1863 † 21. April 1929 in Bohra.
Hier ruht unser Meister Johann Gottfried Müller, Huf und Waffenschmied zu Nieda. Geboren den 29. Feb 1780. Gestorben den 11. August 1851. Alt 71 Jahr, 5 Monate, 13 Tage.

Es ist ein bisschen, wie Nikolaifriedhof. Eine untergegangene deutsche Geschichte…

Selma Henriette. jüngste Tochter des Gutsbesitzers Christian Friedrich Neumann zu Reutnitz. Gestorben den 5. Juli 1842 im Alter von 3 Wochen.
Ernst Julius. einzigster Sohn des Gutsbesitzers Ernst Lug. Neumann zu Reutnitz. Gestorben den 24. August 1847 im Alter von 13 Tagen.
Epitaphien
Erbbegräbnis: Familien Schenke Reutnitz
Hier ruht in Gott meine liebe Gattin unsere gute Mutter Louise Renger, geborene Gleisberg, * 27.7.1853 † 25.12.1829 in Wanscha.

Nieda, Reutnitz, Wanscha, Bohra: Die Menschen aus allen umliegenden Orten wurden hier beerdigt. Da liegen sie nun und seit 1945 kommt niemand mehr.

Dann sag ich: „Guck mal, hier ist ein Deutscher, der neu beerdigt wurde.“
Es ist viel später am Tag, als ich bei einem kühlen Radler aus dem Buch über Nieda vorlese. Der Autor hatte 2007 den ca. 70 Jährigen Helmut Brüchner in sein Heimatdorf Nieda begleitet. Bei dieser Fahrt hatte Helmut seinen Verwandten den alten Heimatort gezeigt und erklärt. Benannt, welche stattlichen Gebäude dem Stausee weichen mussten. Die polnischen Einwohner waren ebenfalls sehr angetan von den Erzählungen. Helmut war vielleicht der Letzte aus Nieda…

Die Suche nach dem herrlichen Strand

Ortseingang Nieda erwartet uns dieses Bild.

Mein Buch sagt: „Die Rezeption des Erholungszentrums ist in der Saison täglich von 6 bis 22 Uhr geöffnet.“ Und weiter: „… sowie ein Restaurant, welches Urlaubern Vollverpflegung anbietet, aber auch Tages- und Wochenendtouristen gastronomisch betreut.“ Na, wohl eher nicht mehr.

Und das da sollen die „130 Übernachtungsplätze mit unterschiedlichem Standart“ sein?

Der Pförtner wirkt gefährlich, für dieses Ensemble an Ruinen will er Eintritt und seine Schilder sind russisch. Wir beschließen, einfach mal weiter zu radeln. Irgendwo wird der tolle Strand schon sein…

Unterwegs treffen wir am Wolfsberg diesen Kumpel hier und ein Schild auf den slawischen Ursprung des Dorfes um 900 n Chr. Lange also, bevor es durch Deutsche besiedelt wurde.

Von oben sieht das alles eigentlich voll hübsch aus. Isergebirge im Hintergrund. See schön groß…

In Bohra nehmen wir die erste rechts rum zum See. Wir landen aber an keinem Strand, nur einer Boots-Einstiegsstelle. Die ersten Motorboote mit Badegästen hinten an der Strippe sausen vorbei. Mensch irgendwo muss der Erlebnisstrand doch sein?

Und so wandern wir einfach um den Wolfsberg rum und verstehen sehr bald: Das geile Ufer mit Campern, Segelbooten, Restaurant, Motorbooten die einen durch die Gegend ziehen, liegt irgendwie auf der anderen Seite. Kann eigentlich nicht sein, aber okay…

Also alles zurück, über den Damm des Stausees, rüber in den zweiten Teil von Nieda. Ist ja nur der Ort der 7 Hügel und es geht die ganze Zeit kräftig rauf und runter.

Von der gegenüberliegenden Seite wird klar: Nee, also nee. Das da ist nicht die hoch gelobte Ferienanlage von vor 2010.

Dabei hat die Landschaft ein unfassbares Potenzial.

Zwischendrin der Blick nach Leuba rüber von Nieda aus.

Und dann wird das ganze Drama sichtbar: Nieda gibts nicht mehr! Gar nichts mehr! Seit 2010 ist der Ort tot.

Und der tolle Strand ist Privatgelände des Tagebau Turow. Wir dürfen nicht rein, kriegen kein Bier und fahren deswegen heim.

Unser Streckenverlauf

Und so verstehen wir an diesem Tag, wieso die alle an den Berzdorfer See kommen: Es gibt momentan kein Freizeitparadies mehr an der Witka. Außerdem ist die Wasserqualität der Witka sehr viel schlechter als im Berzi. Und keine Ahnung, wo die tollen Radwege sind. Wir haben uns fast ausschließlich über Schotterpisten gequält.
Der Ausflug war dennoch weniger enttäuschend, sondern viel mehr: erkenntnisreich.
Es war einmal Nieda… Und es bleibt nichts, wenn der Letzte geht, dem es wichtig war…


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