Neulich hab ich ein „Nachbarskind“ getroffen und wir haben zusammengetragen, wo wir früher den Tag verbrachten in Königshufen. Das ist ganz erstaunlich, wenn man sich die Situation 30 Jahre später betrachtet. Ich will sie zeigen, die verschwundenen Plätze von Jugendkultur – am Beispiel Königshufen.
Die Eisdiele von Frau Ottlinger
Jeden Tag nach der Schule und am Wochenende standen wir mit Eiskübel alle Schlange, oft eine halbe Stunde lang für ein kleines „Gemischtes“. Heute sieht es dort so aus:
Die Lücke schließt zum Glück der „Eisdealer“ im alten Kiosk auf dem Nordring.
Jungschar-Wagen
Viele Jahre stand ein Bauwagen hinter der 20. POS, der heutigen Grundschule Königshufen, in dem die Junge Gemeinde ihre Bibelstunde abhielt. Heute ist es das Gelände vom G22 (links im Bild). Da irgendwo stand der Bauwagen auf der Wiese. Und das ging!
1998 mit der Eröffnung der Hoffnungskirche, die vorher in Deutsch Ossig stand und nach Königshufen umgesetzt wurde, konnte Gemeindearbeit im Gemeindehaus stattfinden. Der Bauwagen wurde abgeschafft. Dafür gab es jetzt Bandprobe.
Die sehr viel fetzigere Bibelstunde fand aber in der Einraumwohnung der Gemeindehelferin auf der Wendel-Roskopf-Straße statt. Es ist mir heute unerklärlich, wie sich bis zu 12 Leute da reinquetschen konnten.
Bäume klettern auf dem Friedhof
An der Gedenkanlage für die Opfer des 2. Weltkriegs auf dem Neuen Friedhof gab es „schon immer“ diese Baumreihe. Das heißt, die Bäume waren damals noch dünner und noch viele mehr und hatten auch im unteren Bereich Äste. Es war unsere „Challenge“ (ohne, dass wir das so genannt hätten), die ganze Baumreihe durchzuklettern, ohne den Boden zu berühren. Wir haben tagelang trainiert. Heute würde man das „bouldern“ nennen oder Parkour-Sport. Hatten wir schon in den End-80ern „erfunden“.
Dass es auf dem Friedhof war, störte uns nicht. Wir wollten klettern und da waren geeignete Bäume.
Am „Wagen“
Apropos Bäume: Auf dem Ostring gab (und gibt) es ein Wäldchen. Und oben stand ein Bauwagen.
An dem Wagen gab es auch Sozialarbeiter (die selben, wie auf dem Boulevard in den Räumen). Tatsächlich war uns aber nicht ganz klar, wozu die da waren 🙂 Sie hatten immer nur Verbote und richtig cool wurde es erst abends bzw am Wochenende, wenn die weg waren – und wir uns den Bauwagen selber aufmachten.
Wir bauten nämlich Buden in dem Wäldchen…
… und machten Lagerfeuer. Sehr zum Ärger der Anwohner, die regelmäßig die Polizei riefen wegen dem Qualm.
Heute stehen an der Stelle vom Bauwagen die Proberäume des ehemaligen Spielmannzug, jetzt „Dörte“. Der Ort wird also noch genutzt.
Aber nur oben. Zentraler Ort für uns jedoch war das Waldstück. Der Abstieg ist nicht mehr begehbar, die große Freifläche mit den Bänken und der Lagerfeuerstelle verwildert. Hier ist ein Ort für „Naturpädagogik“ komplett verloren gegangen.
D.h., vor Jahren bin ich mal seitlich abgestiegen. Da war dann schon eine Couch und bisschen was zusammen geschreinert und eine Lagerfeuerstelle, aber an einer ganz anderen Stelle. Grundbedürfnisse, etwas zu bauen und sich auszuprobieren, bzw ganz einfach seine Ruhe vor den Erwachsenen zu haben, bleiben offenbar immer die selben.
Das Wäldchen
Ich sag immer Wäldchen, aber das echte „Wäldchen“ war ganz wo anders. So nannte sich die Schlucht vom Kidrontal, seitlich neben dem Kaufland und Anwohnerparkplatz. Dort gab es eine große Clique.
Hier gibt es noch Spielanlagen. Aber die Jugendlichen gibts nicht mehr, die dort den Tag verbringen.
Druschba und Nordclub
Das Druschba war ein Jugendclub an der Gersdorfstraße. Freitags war Jugenddisko, Samstag für „Erwachsene“. Jeder bekam seine Musikrunde: Die Heavys ihr Gegrunze, die Gothics ihr melancholisches Schweben, die Mädels Madonna, die Rechten bekamen ihre „Onkelz“ und die Punks ihr Gepoge – und dann wieder 90er. Verrückt – und das ging! Alles in einem Raum. Ich denke, das wäre heute „aus politischen Gründen“ nicht mehr möglich, friedlich miteinander zu feiern von Rechts bis Links, von Gothic-schwarz bis Disko-grell. Wir hatten das damals noch drauf.
Unter der Woche war nachmittags offen.
Heute ist es das Kidrolino. Das einzige Objekt aus den 90ern, was überlebt hat in gewisser Form. Am Wochenende Tanz gibt es nicht mehr für die Königshufener.
Im Nordclub auf der Scultetusstraße war ebenfalls am Wochenende Tanz. Heute ist es „Die Tafel“.
Die „Räume“
Ich sprach vorhin von den Sozialarbeitern am Bauwagen, die auch in den „Räumen“ waren. Das war auf dem Boulevard. Heute ist das ein Hort. Für uns war es die Rettung im Winterhalbjahr, wo das Schmuddelwetter uns ausbremste beim zusammen Draußen sein. D.h., ich erinnere mich auch an Lagerfeuer bei minus 10 Grad im Schnee. 😉 Wir waren damals bisschen wetterfester und nicht so „mimimi“.
Hort
Hort war früher in jeder Schule bis zur 4. Klasse. Es gab die Mittagskinder, die gingen sofort nach dem Unterricht oder Mittagessen heim. Und die anderen jeweils so, wie die Eltern nach Hause kamen. Wir „Schlüsselkinder“ waren bis um 4re im Hort. „16 Uhr“ gab es damals noch nicht im Sprachgebrauch. Der Hort war der Ort für Hausaufgaben – und dann aber Seilspringen, Gummihopse, Frosch-hüpf-raus, Tsching-Tschang-Tschong, Verstecker, Hasche und viele andere Kinderspiele. Mein Hort an der 19. POS / 20. POS hatte ein Klettergerüst, das heute verschwunden ist, wie so vieles…
Spielplätze in jedem Hof
Apropos Klettergerüste – die standen in jedem Hof. Mehrere! Also so Richtige zum klettern, hangeln, Klimmzüge machen, sich anstrengen und auspowern. Sowas gibt es gar nicht mehr. In der ganzen Stadt hat man Schwierigkeiten mal paar Stangen zu finden, um sich aushängen zu können, wahlweise auch kopfüber. Alle jammern, dass die Jugend zu unsportlich und dick ist – aber wie will man denn in den Holzspielplätzen von heute wirklich körperlich aktiv werden?
Hier der ehemalige Spielplatz im Hof Schlesische/Wiesengrund/Ostring 2017.
Und die gleiche Stelle vor zwei Tagen, 2024. Alles weg!
Zentraler Treffpunkt waren auch immer die Tischtennisplatten. Und dann wurde dort stundenlang mit dem Kassettenrekorder die Tanzschritte zu Madonnas „Vogue“ geübt – und ja, manchmal auch Tischtennis gespielt. Die Jungs schraubten an den Mopeds und die Mädels gaben sich täglich einen Brief. Handys zum chatten hatte noch keiner erfunden. Computer zum tippen auch nicht. Wir schrieben noch Seitenweise per Hand.
Skateboard fahren und Co.
Den längsten Berg, einen „Vierer“, hatte der Hof Ostring/Am Feierabendheim. Nur die Besten trauen sich, dort im Stehen auf dem Skateboard runterzubrettern. Ich war das einzige Mädchen, dass das konnte. Und wenn eine Mutti kam, die mit Kinderwagen da runter wollte, dann hielten alle Skater an und ließen sie durch. Manche waren auch mit Rollschuhen unterwegs. Inlineskater waren noch nicht erfunden.
Wahlweise mussten die Rodelberge her halten für den Nervenkitzel, aber da meckerten wieder die Anwohner, weil wir die Wiese zerfuhren. Halfpipes gabs noch nicht. Gleich neben der Treppe (links) war ein Sandkasten mit Spielplatz, der heute ebenfalls fehlt.
Bei Freunden
Manchmal war das Wetter schlecht. Dann ging es zu irgend jemand nach Hause. Wahlweise auch in dessen Fahrradkeller, bis uns die Nachbarn rauswarfen 🙂
Einfach Draußen
Mal war es die Tischtennisplatte, mal eine Bank auf dem Boulevard, einen Frühling mal das Rondell an der Kö (Fotos).
Wir zogen rum, wir waren nicht ortsfest, der Nachmittag ergab sich. Man umgab sich mit den Guten und hielt sich fern von den Arschlöchern. So einfach war das.
Und dann waren wir plötzlich alle 16 und das Leben riss uns auseinander. Nach den Sommerferien war alles anders. Viele Freunde wurden von ihren Eltern „mitgeschleppt“, die in den Westen umzogen. Die hier blieben, gingen in die Lehre oder weiter aufs Gymnasium. Wir waren erwachsen(er) geworden.
Was es gar nicht gab
Elterntaxis – Wir bewegten uns mit dein eigenen Beinen, Skateboard, Rollschuhen oder Fahrrad.
Geld ausgeben – Unser Nachmittag kostete kein Geld.
Genug trinken – Von 2 Uhr bis 8 Uhr rannte niemand mit einer Wasserflasche rum.
(politische) Vorträge – Wir hätten den Erwachsenen aber was erzählt, wenn die uns auch noch Nachmittags hätten zuknistern wollen.
Workshops – Das Leben war unser Lehrmeister und wir einander. Da kamen keine „Vorturner“.
Handys – Wir hatten Freunde, echte, zum anfassen, jeden Tag. Wozu dann chatten?
Bewegungsmangel – Niemand war dick, denn wir hatten Klettergerüste, Bäume, haben Holz geschleppt, haben Buden gebaut, sind Skateboard gefahren.
Drinnen hocken – Wenn es nicht schüttete, waren wir draußen. Frieren gabs nicht.
Denken – Es war alles sehr intuitiv und impulshaft. Das hat unsere Wahrnehmung geschult, unsere Gefühle, unsere soziale Kompetenz, das Miteinander. Das Hirn hatte nachmittags Sendepause.
Kann ich nicht – gabs nicht! Es gab „zeig mal“ und „gib her, ich will das selber probieren“.
Ich fürchte insgesamt, wir züchten seit Jahrzehnten übermäßig viele unselbstständige, unsportliche, unfähige Waschlappen heran. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass wir in einer Vermeidungs- und Verhinderungskultur westdeutscher Angsthasen leben. Wenn die Grundfrage einer Gesellschaft bei allem ist: „Was könnte (Konjunktiv) alles passieren und wer wäre dann in der Haftung?“, ist es logisch, dass alles mögliche verboten ist, woran Jugendliche wachsen.
Der Bewegungsradius von 10 – 16 Jährigen
Wir kamen soweit, wie uns die anfangs kurzen Beinchen trugen. Das war durchs ganze Neubaugebiet. Als Jugendliche dann bis zum Ziegeleiteich (wo wir noch baden waren!) und später bis zum Flugplatz, wo wir eine leerstehende Hütte entdeckt hatten und mit Bravopostern und Sperrmüll-Errungenschaften einrichteten. Aber das war wirklich erst mit 15-16.
Die Kinder waren in ihrem jeweiligen Hof. Zum rodeln gings auf den besten Berg, auch wenn der in einem anderen Hof lag. (Und wer mutig war, der fuhr mit Gleitschuhen im Stehen runter.) Und langsam, von Jahr zu Jahr, wurde das „Revier“ größer. Aber es blieb im Stadtteil. Und wir mussten ja auch nicht weg! Die Kinder unter den ca. 6.000 Einwohnern von Königshufen (Tendenz in den 90ern sinkend) hatten 2 Clubs, die Räume, ein Bauwagen, ein christliches Gemeindeleben, in jedem Hof 2-3 Spielplätze, ihren Hort (mit Spielplatz), Bäume, Wald, Budenbau, Berge.
Und das ist nur ein Schlaglicht von 5-6 Jahren in nur einem (meinem) Stadtteil. Jeder kann sicherlich seine eigene Geschichte erzählen…
Ein Jugendzentrum für die ganze Stadt
Ich hadere sehr mit dem Gedanken, dass ganz Görlitz heute genau ein Jugendzentrum hat. Meines Erachtens ist die Lebenswelt von 10 – 16 Jährigen kaum größer, wie die eigenen Beinchen oder das Fahrrad, wahlweise der eScooter, sie bringt. Alles andere erscheint mir gegen die wahre Natur von Kindern und Jugendlichen. Und in nur einem Jugendzentrum wird sich nicht die volle Bandbreite an Jugendkultur und Bedürfnissen ausleben können. Wenn du das nicht magst, was dort ist, hast du keine Ausweichmöglichkeit. Wir hatten das noch.
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