Das Haus Salomonstraße 10 – 12

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Das Landratsamt Görlitz saniert zwischen Berliner Straße, Bahnhofstraße und Salomonstraße in Görlitz. Für Entsetzen in der Bevölkerung sorgte die Entstuckung von Salomonstraße 13 und 14. Ehemalige Gründerzeithäuser mit Görlitz typischer Verzierung der Fassaden. Der gesamte Stuck ist weg. „Gesichtslos“, ja „beliebig“ sehen beide Häuser nun aus.
Ganz beachtlich ist das nebenstehende Gebäude der Salomonstraße 10 – 12, was ebenfalls saniert wird. Eine Jugendstilperle. Ihr Gesicht, ihre Geschichte will ich hier erzählen.

Erbaut 1899

Mein Lieblingsstadtführer hat ein wenig recherchiert, hatte sehr viel Freude dabei und hat folgendes zusammen getragen: Erbaut wurde das Haus also 1899. So steht es auch über der Eingangstür.

Versetzen wir uns zurück in diese Zeit: Meine Ur-Oma ist da gerade ein Jahr alt.

Darf ich vorstellen: Meine Ur-Oma Liesbeth (links) mit ihrer Schwester Hedwig (rechts)

Unser aller Vorfahren erleben live eine wachsende Innenstadt und Südstadt. Knapp 50 Jahre früher wird die Stadtmauer abgetragen, ein Bahnhof und ein Viadukt gebaut. Auf der Fläche dazwischen wird in Windeseile eine „Neustadt“ hochgezogen. Klinkerbauten, reich mit Stuck verziert. Dazu Figuren und Ornamente aus dem Katalog (mehr dazu hier). Massenware eines Industriezeitalters, was Massenproduktion überhaupt erst ermöglichte. Und obwohl sich vieles ähnelt und gleicht, entsteht dadurch erst das Gesamtbild von Görlitz. Es wird ein architektonischer Schatz.

Görlitz ist 1895 bei 70.175 Einwohnern. Nur 5 Jahre später, 1900, schon bei 80.931. Weitere 5 Jahre später, 1905 bei 83.766 (vergleiche hier). Die Adressbücher sind voller Nennungen von Geschäften, Werkstätten, Cafes, Restaurationen. Es ist quirlig und lebendig. Es ist der Inbegriff von Gründerzeit: Wohnen und Arbeiten liegt dicht beieinander. Die Häuser haben kleine Lädeneinheiten im EG und im Hinterhof Garagen bzw Werkstätten.

Noch hat Deutschland seinen letzten Kaiser (1888 bis 1918). Die Herren tragen Zylinder und Hüte, die Damen weite Gehröcke – noch bis in die 20er und 40er (siehe Erinnung vom 27.2.2021). Wer kann, gibt sich vornehm.

Mode der 20er bis 40er Jahre
Mode der 20 – 40er, ein Plakat weiter unten auf der Salomonstraße.

Und so werden eben auch reich verzierte Häuser gebaut. All das ist die Geburtsstunde der Salomonstraße 10 – 12.

Der Stil

Die Salomonstraße 10 – 12 wird reich verziert. Reicher als die umliegenden Häuser.

Ein Dreischneuß befindet sich ganz oben im Giebel. Etwas, was man vor allem an Kirchenbauten findet. Hier hinter der derzeitigen Einrüstung des Gebäudes (2023/2024).

Es gibt Fassadenbänder mit Sonne und Wind, der als pustende Wolke dargestellt wird.

Es gibt weitere Details, in Form von Blumen, Lorbeerkränze, Masken usw.

„In den Giebelspitzen recken Adler auf ihrem Horst die Hälse nach oben“, sagt mein Lieblingsstadtführer.
Die wollte ich heute noch nachträglich fotografieren. Aber die sind (gerade) weg! Hier heißt es also aufmerksam die Sanierungsarbeiten verfolgen.

Foto: Es hat mein Lieblingsstadtführer aus Wikipedia und uns da die „Adler-Horste“ eingekringelt. Autor ist dort Freddo213 📸 mit Creative-Commons-Lizenz.

Axel Lange hat ein Foto mit Nahaufnahme gefunden:

Foto: Axel Lange

Wer der Architekt war, war für meinen Stadtführer mit seinen Mitteln nicht rauszubekommen. (Weiß es wer?). Aber das Adressbuch von 1900 kennt genau einen Eintrag: „Neubau. Wilhelm Heinrich Lederhändler.“ Das Haus war also offensichtlich gerade fertiggestellt und bis auf das Geschäft des Lederhändlers Heinrich (der wahrscheinklich auch der Bauherr und zumindest aber der Eigentümer war) noch nicht vermietet.

Die ersten Mieter 1901

Ein Jahr später sieht das schon anders aus: Das Adressbuch von 1901/1902 vermeldet neben dem Lederwarengeschäft von W. Heinrich noch die Tuchhandlung von Karl Dettloff und die „mechanische Schuh-Besohl-Anstalt“ von Günther Kumft. Das Haus beherbergt neben den drei Läden 11 Mietparteien, so nennt das Adressbuch eine Bahnmeisters-Witwe, einen Geldbriefträger, einen Zugführer, ein Fräulein, einen Musiklehrer und einen Privatier als Bewohnerin bzw. Bewohner.

Und so zieht also Leben in das Haus. Nicht nur Mieter, sondern auch „Gewerbe“.
Ebenfalls ab 1901 hat die Firma „Nahme und Weiske“ ihr Kontor hier und eine Teppichknüpferei (diese dann im Hinterhaus). „Nahme und Weiske“ haben zusätzlich eine Teppichweberei gegenüber im Hof des Hauses Salomonstraße 30/31 (später Steppke Bekleidungswerk).
(Für alle, die selber in den alten Adressbüchern schnüffeln wollen, bitte hier entlang. Dort den Jahrgang auswählen.)

Erster Superlativ 1906

Zwischen 1906 und 1907 baut hier die Firma „Soennecken und Riedl“ mit dem Modell „Primus“ eine der leichtesten und kleinsten Kameras ihrer Zeit (Quelle). Und Günther Kumft, der hier nun schon 5 Jahre ansässig ist, firmiert jetzt unter „Erste mechanische Schnellschuhsohlerei“.

Möbel- und Ausstattungshaus Alfred Grätz 1925/26

1925/26 werden die Ladengeschäfte im Gebäude und alle Nebengebäude Teil des „Möbel- und Ausstattungshauses Alfred Grätz“. Der war bereits Anfang des 20. Jhd. von der Fleischerstraße mit seinem Geschäft in die Berliner Straße 42 gezogen. Zu DDR-Zeiten hieß es „Täschnerwaren“. 1925 dehnte sich sein Geschäft bis zur Salomonstraße aus. Eine alte Werbeanzeige zeugt davon:

Mikrokosmos Salomonstraße 10 – 12, 1927/1928

1927/1928 lohnt sich noch mal ein Blick ins Adressbuch auf die einzelnen Mietparteien:
Günther Kumft mit seiner „Schnellschuhsohlerei“ ist immer noch da und das „Möbel- und Ausstattungshaus“ von Alfred Grätz auch. Es gibt immer noch 11 Mietwohnung und die Mieterschaft ist fast ein Mikrokosmos der Stadt. So wohnen dort z.B. ein Geschäftsführer, ein Fabrikbesitzer, ein Gewerkschaftssekretär, ein Tischler, eine Schneidermeisterin, ein Feuerwehrmann, eine Witwe.

Und dann kam Hollywood nach Görliwood

Ab den 1989er Jahren kann endlich saniert werden. Ca. 90 Jahre nach ihrer Erbauung erhalten viele Häuser die rettende Frischekur. Nicht so die Salomonstraße 10 – 12. Die steht leer und verströmt den Geist alter Zeit. Das entdeckt Hollywood für sich! Hier werden Szenen für „Der Vorleser“ mit Kate Winslet 2007 gedreht. Filmfans wissen es längst: Die noch vorhanden Ladeninschriften „Hut-Herber“ und „Stoff König“ stammen von den Dreharbeiten für den Film „Der Vorleser“. In einem der Geschäfte war die Kulisse des Briefmarkenhändlers eingerichtet, bei dem Michael seine Briefmarkensammlung verkauft um den Ausflug mit Hanna zu finanzieren.

2012 – Abriss?

Es soll eine Passage von der Berliner zur Salomonstraße gebaut werden. Auf der Abrissliste stehen die Berliner Straße 40 , Berliner Straße 39, Berliner Straße 41, Salomonstraße 17, Salomonstraße 13, Salomonstraße 10, 11, 12, Salomonstraße 16, Salomonstraße 14. Investor ist damals ein Herr Heinz Nettekoven, sein Projektleiter heißt Andreas Stimpel. (Quelle: SZ vom 4.1.2012)
Keine Einheimischen! Niemand, dessen Großeltern und Ur-Großeltern je mit der Salomonstraße zu tun hatten. Da fällt es leicht, die Abrissbirne zu schwingen.
2013 platzt der Plan von besagter Einkaufspassage.

Das Problem bleibt: Was tun mit der alten Hütte, deren Nachbargebäude so langsam einsturztgefährdet sind?

2012 – Einstützende Neubauten

Ein Haus erfordert immer wieder Restaurierung, Erneuerung, Sanierung. Das verwundert wirklich niemanden. Unser Objekt wurde 1899 erbaut. Es ist nun (2012) 113 Jahre alt. Beide Kriege hat es überstanden – allein das ist ein Wunder! Auch die DDR Zeit hat es geschafft. Aber es nagt der Zahn der Zeit. So schreibt die SZ am 22.3.2012: „Nach unserer Statistik kommen in den nächsten Jahren 140 Häuser hinzu. Dutzende sind aktuell einsturzgefährdet, zum Beispiel Leipziger Straße, Salomonstraße, Bahnhofstraße, Bismarckstraße, Cottbuser Straße.“
Wir wissen das alle!

Und warum machen die Besitzer nichts?, fragte die SZ weiter:
„Sie sind weit weg und haben die Gebäude anscheinend nur, um sich steuerlich arm zu rechnen. Oft sind es Fonds, dubiose Firmen oder Leute in Hongkong oder Australien. Kommen wir mit der Forderung einer Notsicherung, reagieren sie nicht – sofern wir die Eigentümer überhaupt herausfinden. Nicht alle stehen im Grundbuch. Ich hätte nie gedacht, dass wir selbst Menschen, die einst einen Wohnsitz in Görlitz hatten, in Deutschland nicht mehr finden.“

Es ist auch der Ausverkauf unserer Stadt an Glücksritter aus aller Welt, der es so schwer macht. Wären die Nachkommen von „Wilhelm Heinrich, Lederhändler“ bis heute in Görlitz und Eigentümer, würden sie das Erbe ihres Ur-Ur-Opas hoch halten, ja vermutlich lieben. Aber es herrscht ein riesen großes Durcheinander auf unserem Erdball. Es wird alten Gebäuden zum Verhängnis.

Ab 2007 Pläne zur Landratsamtserweiterung

Es ist ein Segen für die alten Häuser der oberen Berliner und der oberen Salomonstraße, als sich ein Geldgeber gefunden hatte mit einer Vision. Alle Häuser, die 35 Jahre nach der Wende nicht saniert sind, haben kaum mehr eine rosige Zukunft.

Das bis zum Baustart 2021 die Häuser so marode sind/waren, dass sie teils von der Denkmalliste gestrichen wurden und damit eine „einfache“ Sanierung, künftig pflegeleicht und kostengünstig möglich wurde, haben wir an der Salomonstraße 13 und 14 mit erschrecken feststellen müssen. Kommuniziert hat das NIEMAND im Vorfeld.

Die Jugendstil-Perle Salomonstraße 10 – 12 steckt ebenfalls in einem Baugerüst (siehe Fotos weiter oben). Noch ist der Stuck und die Zierelemente dran. Hoffen wir, dass Baufirmen, Planungsbüros und Bauheer kurz den Geist der alten Zeit, die Geschichte und Geschichtchen des Hauses verstehen und im Spagat zwischen „früher“ und „heute“ keine Bausünden begehen. Es ist immer auch die Marke „Görliwood“, die gefährdet wird. Das große Potenzial von Görlitz sind nunmal seine Fassaden.

Foto: Axel Lange mit freundlicher Genehmigung

Einen Text wie diesen könnte ich wohl zu jedem einzelnen Haus schreiben, was manche so gern entkernen, verunstalten und am liebsten abreißen wollen. Jedes einzelne hat seine Geschichte und dies ist gleichzeitig unser aller Familien- und Stadtgeschichte.

Fortsetzung

Inzwischen gibt es eine Fortsetzung mit Skizzen von Horst Pinkau und Daten aus der Bauakte, hier.


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