Auf der Uferstraße steht seit 2005 eine Skulptur, die der Volksmund „Rotes Ungetüm“ nennt. Hintergrund ist, dass niemand weiß, was es sein soll – oder warum es da ist, damals schon und heute immer noch, 18 Jahre später. Genau genommen nennt es sich „Stadt-Raum-Skulptur“. Wie es dazu kam, ist möglicherweise Augen öffnend und daher erzählenswert.
Der Beirat für bildende Kunst im öffentlichen Raum
Görlitz hatte einmal einen solches Gremium. Dort wurde nicht zwingend entschieden, ob ein Kunstwerk „schön“ ist, aber dennoch drei ganz wichtige Fragen besprochen:
1. ob ein „Kunstwerk“ passend ist.
2. ob ein „Kunstwerk“ am richtigen Ort ist und
3. welche ästhetische Aussage getroffen wird.
Das Gremium beriet sich und machte Vorschläge, BEVOR Entscheidungen getroffen wurden.
(Bezogen auf unsere „neue Skulptur“ in der Hotherstraße sagt ein ehemaliges Mitglied dieses Gremiums: „Diese drei Fragen sind als verfehlt zu sehen. Das Objekt erfüllt keinesfalls den Zweck der Erinnerung und den der Ehrung der Person.“)
Ein solches Gremium war also eine gute Institution, um allgemeintaugliche Entscheidungen zu treffen. Es könnte möglicherweise ein guter Schlüssel sein bis in heutige Zeit.
Doch was ist passiert?
Absetzung des Beirates
Dr. Wieler hat das Gremium aufgelöst und begonnen, solche Entscheidungen direkt in den Stadtrat zu bringen und dort zu beschließen. Eben gelebte Demokratie…
Was heißt das?
Der Stadtrat besteht aus einem Ausschnitt der Bürgerschaft. Also von Schornsteinfeger, über Friseurin, bis Rechtsanwalt und Berufspolitiker sitzen dort alle. Und diesem Stadtrat gegenüber saß ein Mann der Hochkultur, der mit glühenden formschönen Worten ein kulturelles Anliegen umsetzen wollte, rethorisch durchaus geschickt. Da sind wir wieder beim Märchen „Des Kaisers neue Kleider“! Wenn uns einer lang genug erklärt, wie wichtig doch etwas sei, beginnen wir es unter Umständen zu glauben… Und zwar zu jeder Zeit! Das Märchen stammt von 1837, das rote Ungetüm wurde 2005 installiert.
ACHTUNG: Es ist wichtig, so etwas jenseits einer Schuldfrage zu betrachten. Es war so, das ist nicht gut oder schlecht, nicht schlimm oder falsch. Es war ganz einfach so. Die Menschheit schlingert immer in all ihren Entscheidungen oberhalb und unterhalb eines Optimums umher. Sobald sie sich getroffener Entscheidungen bewusst wird, kann sie korrigierend eingreifen oder alles so belassen. Nicht die Schuldfrage ist also wichtig, sondern Bewusstsein für die Vorgänge zu schaffen.
Das will ich mit diesem Text. Deswegen schauen wir uns den Ablauf der Ereignisse mal an – und staunen über die Parallelen zum Jahr 2023:
Anschaffung des roten Ungetüms
Görlitz will Kulturhauptstadt werden, 2010. Kultur muss her! Federführend ist Ulf Grossmann, ein weiterer Mann der Hochkultur.
Nun haben wir schon zwei – die so ganz anders sind, wie der Durchschnitts-Görlitzer und auch der Durchschnitts-Tourist. Auch das ist nicht gut oder schlecht, schlimm oder falsch. Es ist so – es hat jedoch Konsequenzen, die man nicht schönreden oder wegerklären braucht. Der Volksmund ist immer ehrlich – und das darf er sein. Genau wie die Hochkultur eben für etwas schwärmen darf, nach Herzenslust und so viel sie will, in ihrer kleinen Gruppe.
Ende April 2005 feiert Görlitz „Brückenpark im Licht“. Am Abend eröffnet Bildhauer Bodo Rau an der Altstadtbrücke seine „Stadt-Raum-Skulptur“.
Im Juni 2005 will die Stadt die Skulptur ankaufen. Jedoch ist alles wie immer: „Unklar ist, wie das Geld aufgebracht werden soll.“ Die Kosten belaufen sich um „40 000 und 45 000 Euro. Geld, das in
keiner Haushaltsposition der Stadt eingeplant ist.“
Die Idee, sie als Leihgabe einfach zurück zu geben, finde ich nicht im Archiv. Das „Rote Ungetüm“ entstand schon 1997 und tingelte durch verschiedene Städte, bis man sich in Görlitz daran „festbiss“.
Im Kulturhauptstadtbüro schwärmt man von: „Phantastischen Komposition aus Kuben, Kanten, Rundungen, teils Haus, teils Gasse, teils Maschine“ geschwärmt: „Man kann durch das Gebilde hindurchgehen. Man kann sich hinstellen, Reden halten oder singen. Liebespaare können unter das eiserne Gebälk treten und sich küssen oder eine Cola trinken.“
Der Kulturamtsleiter schwärm unterdessen: „Wir halten den künstlerischen Wert der Skulptur für so gut,
dass wir sie gern dauerhaft in Görlitz aufstellen wollen.“ Sie würde hervorragend die schon vorhandene Kunst im öffentlichen Raum ergänzen.“
Wir denken beim Lesen immer an „Des Kaisers neue Kleider!“ Wir bekommen erklärt, wie wir die Welt zu sehen haben.
Im Juli 2005 beklagt die (kürzlich verstorbene) Stadträtin Fourier, dass sie erst aus der Zeitung von der geplanten Anschaffung über 40.000 Euro erfahren habe.
Das kommt uns alles extrem bekannt vor, oder? Ein 18 Jahre alter Systemfehler, den wir wiederholen und wiederholen und wiederholen.
Im Juli 2005 legt sich die SZ auf die Lauer, wie die Stadt-Raum-Skulptur ankommt. Fazit: „Außer einer erschöpften Touristin aber nimmt davon keiner Notiz. Etwas unkonzentriert – sie hat wohl einen Stein im Schuh – lässt sie sich auf einer der roten Ecken nieder, lädt ihren Rucksack versehentlich auf dem weißen Schriftzug ab: „Betreten auf eigene Gefahr“.“
Und weiter: Zwei Touristen an der Obermühle sagen: „Das rote Ding dagegen“, er deutet in Richtung
Ochsenbastei, „könnte in jeder Großstadt stehen. Hier verstellt es eher den Blick auf das historische Ambiente. Und modern war so was vielleicht vor 30 Jahren.“
Unter Frank Seibel war die SZ noch cool.
Herr Grossmann bleibt locker: „Wenn wir mit unserer Bewerbung als Kulturhauptstadt ernst genommen werden wollen, müssen wir uns so etwas leisten. Wir müssen diese Auseinandersetzung wagen.“
Ein Mann der Hochkultur setzt ein Dogma, dem niemand wiederspricht. Das ist wichtig zu verstehen.
Während dessen überlegt der Künstler selbst, nach Görlitz zu ziehen und ist mit dem Ort, an dem seine Skulptur steht, unzufrieden. Die Wildgänsegruppe wenige Meter weiter, bilden einen zu großen Kontrast. Während Herr Großmann sie gern an See stellen will, ist der Künstler geschockt. Er will sie lieber in der Innenstadt haben, genau im Stadtzentrum.
Hier kämpfen Egos miteinander. Um den Bürger geht es Null!
Es gibt unterdessen Überlegungen, dem Künstler eine städtische Immobilie im Wert des Kunstwerkes zur Verfügung zu stellen, quasi zu schenken, damit er her zieht. Dazu kommt es nicht!
Die Opferung von städtischen Immobilien und Grundstücken zur Finanzierung irgendwelcher Vorhaben kennen wir bis heute.
Mai 2008, die Skulptur ist gekauft: „Mittlerweile hat die Stadt das Kunstwerk gekauft. 5000 Euro hat sie dafür aufbringen müssen. 15000 Euro hat die Kulturstiftung des Freistaats Sachsen übernommen. Der Künstler selbst stiftete 10000 Euro. Den Rest der 45000 Euro haben Unternehmen und Bürger gespendet.“
Juni 2010: Die Bürger sollen abstimmen über den Verbleib des „Roten Ungetüms“. Lutherplatz oder Neißeufer? Danach gibt es dazu keine Meldungen mehr. Sie steht nun seit 18 Jahren an der Neiße.
Der Mann aus dem „Beirat für bildene Kunst im öffentlichen Raum“ unterdessen fasst es heute so zusammen: „Kein Bürger wollte es und jetzt rostet es da vor sich hin.“
Kulturhauptstadt 2010 wurde Essen
Wir erinnern uns, Kulturhauptstadt wurde damals Essen. In Görlitz gab es dann an den Gaststätten Aufkleber mit dem Spruch: „Wenn schon Essen, dann in Görlitz.“ Das war lustig.
Geblieben ist eine Skulptur, die kein Görlitzer Einwohner wollte. Die die Stadt Geld gekostet hat. Die bis heute keine tragende Rolle auf Postkarten, in Werbebroschüren, bei unseren Fotografen hat (unsere Muschelminna schon, die Wildgänsegruppe 50 Meter weiter auch!). Ausgelöst von zwei Männern der Hochkultur und der Idee einer Kulturhauptstadt-Bewerbung sowie einem Stadtrat, der nicht widersprochen hat. Kein Görlitzer weiß heute, was das sein soll. Dass es „Stadt-Raum-Skulptur“ heißt auch nicht – es ist das „Rote Ungetüm“ mit undefinierbaren Sinn. Der Künstler wohnt nicht in Görlitz, wie zwischendrin angedacht. Es nimmt aber auch niemand Anstoß daran, dass da ein Ding steht, was wenige freut. Es ist inzwischen einfach okay, dass es da ist.
Das Wichtigste dabei – und hier wiederhole ich mich nochmals: Das alles ist wertungsfrei. Es ist! Wir könnten allerdings daraus lernen. Bei unserem schlingern um ein Optimum, können wir jede menschliche Entscheidung, die als Gute Idee begann, sich aber irgendwie als doof herausstellte, korrigieren. Das kosten nicht mal Mut. Man braucht nur Bewusstsein.
Raus aus dem Thema, aus allen Themen!
Inzwischen guckt sie sich weg. Sie hat keine Relevanz. Sie ist weder Aufreger noch Störfaktor. Niemand denkt über sie nach. Jeder ist aus dem Thema gegangen. Das heilsamste, was man bei jedem Thema machen kann…
Der Mann aus dem „Beirat für bildene Kunst im öffentlichen Raum“ hat noch eine schöne Idee: „Wir sollten die Gänse dort weg nehmen und dann wird das der Ort für ungewollte „Kunst“ in Görlitz.“
Das nun wieder finde ich cool. Die Salzkristalle sind ja auch schon da…
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